ohne maske

Text;
Hans Dieter Grünefeld

Klassische Theaterrollen wie die „Rose" in „Die See" von Edward Bond, Produktionen wie die dramatisierte Version von Shakespea­re-Sonetten und Engagements in TV-Serien wie „SoKo Kitzbühel" profilieren Anja Stoehr als Schauspielerin. Gleichwertig ist für sie ihre Karriere als Sängerin. Traditionellen und Tango Nuevo hat sie mit exzellenten Musikern wie dem Pianisten und Komponisten Marcelo Raigal sowie den Gitarristen Carlos Mieres und Sergio Gobi erfolg­reich in Europa und Argentinien aufgeführt.


Inwieweit sind Schauspielerin und Sängerin zwei Seelen in Ihnen ?


Nach einer längeren Phase des Zweifels habe ich nicht mehr das Gefühl der Unvollkommenheit. Nun habe ich die Courage, mich als Gesamtkunstwerk zu betrachten und kann die Tätigkeiten in meiner Per­sönlichkeit harmonisieren, Als Schauspielerin habe ich immer Musik geliebt, aber nicht praktiziert. Ob­wohl ich mich nicht gegen meinen Beruf entschieden hatte, war ich plötzlich zu meiner Überraschung Tan­go-Sängerin. Und da mein Interesse groß war, habe ich mich auf diesen kreativen Prozess eingelassen.


Warum habe ich manchmal das Gefühl, mich bewegt etwas, was ich nur in einem Film darstellen kann, oder mir fällt etwas ein, was ich nur als Musik erken­ne. Ich lerne, auf meine innere Stimme zu hören, dar­auf zu vertrauen, wohin sie mich treibt. Am Theater und beim Film musste ich eine Sprache lernen, um mich darin bewegen zu können, anstatt meine eige­ne Sprache zu erfinden. Indem ich mich hinter dieser Maske versteckte, hatte ich keinen unmittelbaren Kontakt zu den Menschen. Ohne Maske hatte ich al­lerdings Angst vor der Leere und dem Nichts. Das ist schmerzhaft und einsam. Steht man das aber durch, kommen ungeahnte Schätze zutage. Aber nur, wenn man seelisch stabil ist. Das ist die Konsequenz aus diesem Prozess der Selbsterkenntnis.


Schauspiel und Gesang sind für Sie also kom­plementär?


Absolut. Sogar in der Zeit, als ich noch nicht öffent­lich gesungen habe, war ich von Musik erfüllt, sodass Klang vor dem Wort präsent war. Und jetzt ist es um­gekehrt, jetzt kommt erst das Wort und der Gedanke, dann der Ton Ich behaupte, dass man immer spürt, ob jemand dem Ton eine Vorgeschichte gibt.


Ist diese Vorgeschichte individuell oder kol­lektiv?


Ich glaube, beides. Deshalb ist für mich Interpretation kein Vorgang, sondern ein Resultat meines Auftritts. Ich versuche, an meine persönliche Wahrheit zu ge­langen, und zwar die Wahrheit des Moments. Ein Lied hat ja nicht jeden Tag die gleiche Bedeutung. Wichtig ist, das zu tun, was notwendig ist- und nicht mehr.

Oft beobachte ich diese Angst vor der Pause. Doch gerade in der Stille liegt das Geheimnis. Diesen Raum möchte ich geben. Im Leben und in der Kunst sehe ich als grundsätzliche Aufgabe, Überflüssiges weg zu lassen und zu kucken: was bleibt übrig, was ist die Essenz. Ich suche den Bodensatz.


Finden Sie solche Essenzen eher in der Musik oder im Schauspiel?


In der Musik. Wenn ich mich entscheiden müsste, würde ich nur noch Musik machen, aber mir würde alles andere fehlen.
Unterscheiden sich Ihre Möglichkeiten, die Sie als Sprecherin und als Sängerin haben.
Ja, natürlich. Auf der Bühne verstehe ich Sprache im musikalischen Sinn, weil es letztendlich um das Ungesagte geht. Der Tonfall vermittelt mir eine Botschaft, nicht das Wort als solches.
In meinem Leben habe ich vom Tango sehr viel En­ergie bekommen, auch durch Tango tanzen. Tango kann man sehr leicht auf Klischees wie geschlitzte Kleider, Netzstrumpfe und zackige Bewegungen reduzieren. Dieses Gefühl hatte ich, nachdem ich Spanisch gelernt hatte, und dass niemand die Tex­te versteht. Tangos sind aber eigentlich Miniopern. Dann habe ich Tangotexte übersetzt und auch ge­sungen, aber gar nicht mit der Absicht: ich werde jetzt Sängerin. Dabei ist etwas aufgelebt, was ich lange unterdrückt hatte, nämlich diese Sehnsucht, selber Musik zu machen. Und da ich kein Instrument professionell spiele, habe ich mich über die Stimme indie Musik begeben. Die Reaktionen waren positiv, deshalb habe ich weiter gemacht


Haben Sie die Präzision des Sprechens auf das Singen übertragen?


Präzision in der Sprache entwickelt sich nur durch Präzision in den Gedanken. Ich kann sehr diszipliniert und fleißig sein, wenn mich eine Thematik verein­nahmt. Ich gehe von innen nach außen, ich mache, was ich fühle. Allerdings möchte ich als Künstlerin anderen Menschen möglichst klar mitteilen, was ich fühle, denke, empfinde.

So hat Sprache nur dann einen Wert, wenn sie mit anderen Ebenen kombiniert ist. Auch bei den Übersetzungen klebe ich nicht an den Worten, sondern möchte einen Inhalt weiter geben.

Dazu muss ich eine Distanz zum Text haben, muss prüfen, wie er auf mich wirkt Ich wäge ab, was wesentlich ist. Das kann ich in wenige Sätze packen oder atmosphärisch erfassen. Ich rnuss mich dann als Person zur Verfügung stellen und mei­nen Seelengrund zeigen, damit das Publikum etwas wiedererkennen, ablehnen oder sich identifizieren kann, ich möchte nicht mich, sondern ein Lied darstellen, das ist für mich fundamental.



Haben Sie Vorbilder?


Nicht in dem Sinne, dass ich jemanden imitieren möchte. Das wäre dumm, dann würde ich mir ja wieder eine Maske aufsetzen, Ich lasse mich von Menschen inspirieren, die sich durch ihre Persönlichkeit öf­fentlich wirksam sind.


Was bedeutet Improvisation für Sie ?


In der Improvisation geht es darum, beweglich zu bleiben. Auch im Tan­go gibt es Improvisation, bis zu einem gewissen Grad. Das ist eine Reise im mentalen wie im physischen Sinn, um etwas zu entdecken.


Arbeiten Sie an Projekten?


Ja, eine neue Tango-CD ist in Vorbereitung. Außerdem befasse ich mich mit argentinischer Folklore, die nicht so europäisch ist wie der Tango, sondern irdischer und unmittelbarer. Da fühle ich mich jetzt zu Hause.


Anja Stoehr, Baladas para el Tango (CD & Buch)

Danza y Movimento DYM 6001 / ISBN 3-9807491-0-X



Mit Hans-Dieter Grünefeld sprach Anja Stoehr darüber, wie sie beide Interessen als Künstlerin vereinbart.
Das Interview von Hans Dieter Grünefeld mit Anja Stoehr erschien im März 2005 in der Zeitschrift music-manual.