Sie bezeichnet ihre Reise nach Buenos Aires als Schlüsselerlebnis ihres Lebens. Verliebt in die Stadt und ihre Musik, habe sie im argentinischen Tango ein Ausdrucksmittel für ihre eigenen Gefühle gefunden. Dass sie mit diesem Erlebnis keineswegs allein ist, beweist eine Vielzahl von Veröffentlichungen in diesem Genre, wobei indessen der überwiegende Teil auf einen seit Jahren erfolgreich rollenden Zug aufspringt und nur ein recht geringer Teil überzeugende, weil sich innerlich mit dem Sujet identifizierende, Ergebnisse vorstellt. Die Hamburger Schauspielerin und Sängerin Anja Stoehr gehört zu denjenigen Interpreten, denen man die Identifikation mit dem Tango und seiner Ausdruckswelt abnimmt. Sie hat mit der vorliegenden CD einen herrlichen Wurf gelandet, eine der interpretatorisch überzeugendsten Veröffentlichungen, die es hierzulande in den letzten Jahren gegeben hat! Stoehr interpretiert Kompositionen der alten wie der neuen Tangogarde, bis hin zu solchen des charismatischen Gespannes Astor Piazzolla/Horacio Ferrer mit sicherer, modulationsreicher Gesangstechnik und emotional engagierter Interpretationslust. Mit Ausnahme des etwas manieristisch geratenen Gritado-Epiloges von "Balada para un loco" wirkt nichts aufgesetzt, sondern mit empfundener Aussagekraft vorgetragen.
Allein "Preludio para el año 3001" könnte sich, gemessen an der Originalversion mit Amelita Baltar, streckenweise noch etwas stärker aus dem Parlando heraus in melismatische Sonorität hineinbegeben. Erfreulich, dass Stoehr es vermieden hat, zu viele der häufig dargebotenen "ganz großen" Tango-Hits hier aufzubieten, von ihnen sind hier nur "Malena" und "Milonga sentimental" (vielleicht noch "Fuimos") anzutreffen;" vom Erfolgsgespann Gardel/Le Pera gibt es hier nur das weniger bekannte "Lejana tierra mia". Durchaus mutig, die ironische, aber entsprechend ihrer textlichen Thematik fürchterlich geschwätzige Komödien-Nummer "Se Dice de mi" (eine Milonga von Ivo Pelay/Francisco Canaro, im Original in kokett-aufdringlichem Charlando-Ton, gesungen von Tita Merello) einer ansprechenden Interpretation zuzuführen. Eine glänzende Idee von Stoehr ist es auch, Textpassagen - hauptsächlich die Rezitative bei Piazzolla/Ferrer -oder eine einzelne Stimmung inszenierende Phrase ("Es regnet in Buenos Aires" vor "Los paraguas de Buenos Aires") in deutscher Sprache darzubieten. Begleitet wird Stoehr sensitiv und pointiert von dem israelischen Pianisten Mickey Landau. Abgerundet wird diese empfehlenswerte Produktion, die ursprünglich nicht mehr als ein Demo-Tape werden sollte, von einem liebe- und stimmungsvoll gestalteten Begleitbüchlein mit Liedtexten und guten, sehnsucht-steigernden Fotos aus dem Hamburger Hafen, der nicht zuletzt vor einhundert Jahren auch Ausgangsort von so manchem hoffnungsvollen, später in La Boca gestrandeten deutschen Auswanderer gewesen ist.

Gerhard Lieferst ist seit 1971 als freier
Journalist im kulturellen Bereich für
diverse Fachzeitschriften tätig.
Neben seiner journalistischen
Ausbildung hat er eine musikalische
Ausbildung in klassischem
Gesang und Musiktheorie.

Tango Danza Nr. 3 . 2001